„Trau keinem über 30!“
Ein Alt-68er erzählt von der politisch bewegten Zeitenwende vor 50 Jahren
Mann, ein halbes Jahrhundert sind die jetzt schon her, diese wilden, unruhigen Jahre der jungen Bundesrepublik! Obgleich sich seither unglaublich viel verändert hat, ist mir oft, als ob manches Polit-Happening, Go-in, Sit-in oder Teach-in erst gestern gewesen wäre. „Trau keinem über 30!“ hieß damals eine der Parolen der aufmüpfigen Kinder von Marx und Coca Cola.
Ich war 31, typischer Spätentwickler, mit snobistischer englischer Sportkarosse ("Froschauge sei wachsam") und Redakteur bei einer erzkonservativen Tageszeitung. Da kriegte man berufsbedingt manches Politspektakel aus nächster Nähe mit. Aus aufmerksamer Beobachtung wurde Sympathie, was prompt ein Jahr später zu meinem Rauswurf führte. Inkonsequenter Weise ("wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment") hab ich im selben Jahr geheiratet und so eine spießig-verpönte Kleinfamilie gegründet. In den 70ern wurden meine vier Töchter geboren. Die studentenbewegte Zwischenzeit hab ich freijournalistisch und mit einem Soziologie-Pädagogik-Studium gefüllt. Wollte trotz überschrittenem Verfallsdatum unbedingt noch zu dieser rebellischen Studenten-Generation gehören und mit ihr die Welt retten... Meine erste politische „Heldentat“: Mit einem befreundeten Maler haben wir aus Pappe Straßenschilder angefertigt und in der Nacht zum 1.Mai 68 klammheimlich die Nürnberger Kaiser- und Königsstraße mittels Spitzbuben-Leiter und Pattex umgetauft in Volks- und Arbeiterstraße.
Die Befreiung vom autoritären Mief der Adenauer-Jahre begann meist damit, dass wir uns nach dem Vorbild der Hippies, der kalifornischen Blumenkinder („Lets go to San Franzisco“) die Haare und den Bart wachsen ließen. (Dass die jungen Leute heute nicht mal vor der haarlosen Totalverstümmelung, sprich Achsel- und Schamhaar-Rasur, zurückschrecken, hätten die 68er damals als Indiz für den Kultur-Imperialismus der USA gedeutet). Die Liverpooler „Beatles“ hatten in Hamburg ihre einzigartige Musik-Revolution begonnen. Der innige Paar-Tanz der 50er mit Petticoat-Abstandssicherung mutierte zur individuellen Solo-Performance. Die Disco, in der ich meine spätere Ehepartnerin erstmals zum Tanz aufforderte, hieß „Crazy Horse“. Wir tanzten mit leidenschaftlicher Hingabe, aber ohne jeden Körperkontakt zu dem Herman’s-Hermits-Ohrwurm „No Milk Today“.
Bereits die Langhaarigkeit führte damals zu ungeahnten Konflikten mit der konservativen Kleinbürger-Welt: Als „ungewaschene Gammler“ wurden wir beschimpft, in Gaststätten von exakt gescheitelten Kellnern ignoriert, ums Verrecken nicht bedient, von Arbeitgebern abgemahnt. Sah so nach den Jahren der Nazidiktatur die neue Freiheit aus, die uns das Grundgesetz versprach?
Wir trugen zu unseren Jeans (noch ohne zerfetzte Inneneinsicht) olivgrüne Militär-Parkas mit Peace-Zeichen und aufgemalten Hippie-Sprüchen. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ (ein Song der Berliner Anarcho-Band „Ton, Steine, Scherben“, gemanagt von der heutigen grünen Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth), war ein beliebter Slogan. Mir gefiel besonders – es war die Zeit des barbarischen Vietnam-Krieges - der Spruch „Make love not war“. Von meiner Zeitung zu einer Flottenparade nach Kiel geschickt, hatte ich den dezenten kleinen Button an meiner Outdoor-Jacke. Arglos schlurfte ich mit der wetterfesten Demo-Bekleidung über das Deck einer Fregatte der Bundesmarine, als mich aus heiterem Himmel eine Sturmflut über Bord zu spülen drohte. Der orkanartige Redeschwall wüster Beschimpfungen kam von einem bulligen Journalisten-Kollegen, dessen Bierbauch sich bei jedem Satz aufpumpte wie die Kehle eines balzenden Ochsenfroschs. Meine Verblüffung legte sich rasch, als mich Kollegen grinsend aufklärten: „Mach dir nix draus, der ist vom CSU-Parteiblatt „Bayernkurier“! Das Erlebnis beschleunigte sowohl meinen politischen Lernprozess als auch meinen Abschied vom Zeitungsjournalismus, denn ausgerechnet in die Bayern-Redaktion wurde ich danach strafversetzt .
Zu lernen gab es in diesen Tagen so manches. Bei einem „Schah-Happening“, das der Kabarettist Horst W. Blome in der Nürnberger Innenstadt veranstaltete, vergnügte sich das persische Kaiserpaar, das gerade auf Staatsbesuch durch die Republik turtelte, in einer schnuckeligen Hochzeits-Suite. Bekannte Politiker mit überdimensionalen Pappmaschee-Köpfen tanzten um sie herum und verkündeten: „Der Schah ist ein nettes Kerlchen!“
Bald jedoch wurde aus dem Spaßtheater blutiger Ernst. Dem smarten Schah Mohammad Reza Pahlavi hatten die USA und ihr Geheimdienst CIA im Iran zur diktatorischen Macht verholfen, nachdem der demokratisch gewählte Ministerpräsident Mosadegh weggeputscht worden war. Der war so ungezogen gewesen, die ausländischen Ölfirmen zugunsten seines Volkes enteignen zu wollen. Der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, informierte damals in Berlin zusammen mit dem persischen Regimekritiker und Buchautor Bahman Nirumand über das iranische Unterdrückungsregime. Nachfolgende Protestdemonstrationen gegen den Schah-Besuch wurden von sogenannten Prügel-Persern niedergeknüppelt und von 4000 Polizisten mit Wasserwerfern und Reizgas auseinander getrieben. Polizeiliche Greifkommandos in Zivil verfolgten flüchtende Studenten prügelnd bis in Nebenstraßen und Hinterhöfe.
Wanderer, kommst du heute nach Berlin, dann kannst du an der Deutschen Oper unter einem Bronzerelief des Wiener Bildhauers Alfred Hrdlicka lesen: „Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg im Hof des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den tyrannischen Schah des Iran von einem Polizisten erschossen. Sein Tod war das Signal für die beginnende studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband.“
Was hatte die Studenten damals nicht nur in Deutschland so rebellisch gemacht, dass man glaubte, ihrer phantasievollen, lautstarken, aber friedlichen Protestbewegung nur mit staatlicher Härte Herr werden zu können? Da war zunächst der völkerrechtswidrige, zunehmend brutalere Bomben- und Chemiewaffen-Krieg der USA gegen das kleine vietnamesische Volk, das 30 Jahre um seine Einheit und Befreiung von kolonialer Ausbeutung kämpfte. Philosophen wie Bertrand Russell (Großbritannien), Jean Paul Sartre (Frankreich) und Herbert Marcuse (USA) prangerten ihn auf internationalen Tribunalen als Völkermord an. Weltweit skandierten Studenten bei Massendemonstrationen, untergehakt und im Laufschritt, den Namen des nordvietnamesischen Führers: „Ho-Ho-Ho Tschi Minh“. Und auch in den USA selbst tauchten wie nie zuvor protestierende „Heere aus der Nacht“ (so ein Tatsachenroman von Norman Mailer) auf. Die Kriegsmüdigkeit der US-Bevölkerung wuchs mit der Zahl getöteter amerikanischer Soldaten. Am Ende waren es 58.220. Aber zwei bis fünf Millionen tote und zahllose verstümmelte und vom Monsanto-Unkrautvernichter Agent Orange vergiftete Vietnamesen waren der Blutzoll für Vietnams Unabhängigkeit.
Und dann gab es diese skrupellose Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen wie dem NATO Partner Franko-Spanien, Militär-Regimen in Griechenland und vor allem in Südamerika, die unsre westlichen Demokratien moralisch unglaubwürdig machte. Auf der anderen Seite wurden Kubas siegreicher Revolutionsführer Fidel Castro und sein Kampfgefährte Che Guevara zu Idolen der Studentenbewegung. Der „Kalte Krieg“ zwischen den System-Blöcken samt ihren atomaren Overkill-Potenzialen waren Anlass für Anti-Atomtod-Kampagnen und Friedens-Ostermärsche.
Am Anfang richtete sich die antiautoritäre Studentenbewegung nur gegen den „Muff aus tausend Jahren unter den Talaren“ professoraler Hochschul-Hohepriester. Den Soundtrack lieferten Joan Baez und Bob Dylan, Elvis Presley (der seinen Wehrdienst in der BRD absolvierte) und die Stones. In Deutschland waren politische Liedermacher wie Degenhardt („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“) und Süverkrüp („Lied vom Krypto-Kommunisten“) populär. Den knallbunten Farbhintergrund verliehen die Pop Art und Kultfilme wie „Blow up“. Hetzartikel in Springers BILD und anderen Presse-Imperien sorgten für Eskalation. Die gipfelte am 8.April 68 in den Schüssen des jungen Neonazis Josef Bachmann auf Studentenführer Rudi Dutschke und der darauf folgenden „Enteignet Springer!“- Kampagne. Gewaltsam wurde die Auslieferung der BILD-Zeitung blockiert. Der Verfassungsschutz-Spitzel Peter Urbach verteilte dafür die Brandsätze!
Die hysterischen staatlichen und publizistischen Reaktionen waren bezeichnend für die gesellschaftlichen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland. Nicht nur das juristische Personal sondern auch viele Gesetze waren aus der Nazi-Zeit übernommen worden. Vorehelicher Geschlechtsverkehr („Unzucht“) und Homosexualität (§ 175) wurden juristisch verfolgt. Vermieter wie Mieter, zum Beispiel Eltern, wurden wegen „Kuppelei“ mit Gefängnis bedroht, wenn sie unverheiratete Paare in ihrer Wohnung übernachten ließen. Das patriarchalische Eherecht (Ehefrauen durften nur berufstätig sein, wenn sie ihre „hausfraulichen Pflichten“ nicht vernachlässigten) wurde erst 1976 von der sozial-liberalen Koalition durch ein partnerschaftliches abgelöst.
Der gängige Erziehungsstil war autoritär und gewalttätig. Erst 1980 wurde in Bayerns Schulen (1968 noch konfessionelle Bekenntnisschulen!) die Prügelstrafe abgeschafft, das Recht der Eltern, ihre Kinder körperlich zu züchtigen, erst im Jahr 2000! Elterninitiativen reagierten mit der Gründung „antiautoritärer Schüler- und Kinderläden“. Aufmüpfige Kinder und Jugendliche wurden in sogenannte Erziehungsheime gesteckt, wo - wie wir heute wissen - Sadismus und sexueller Missbrauch an der Tages- und Nachtordnung waren. Die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof hat darüber schon sehr früh ein Aufklärungs-Theaterstück verfasst, mit Aufruf zur Gegenwehr: „Bambule!“ In Nürnberg fand im März 1970 der 4. Deutsche Jugendhilfetag statt, auf den sich eine „Sozialistische Aktion“ um den Berliner SDS-Pädagogen und Soziologen Reinhart Wolff (einer der drei „Roten Wölfe“: Seine Brüder Frank und K.D. waren SDS-Bundesvorsitzende) in Arbeitsgruppen vorbereitet hatte und den sie mit radikaler Gesellschaftskritik politisierte. In der abschließenden Pressekonferenz musste die Tagungsleitung auf meine Nachfrage hin ihren Vorwurf einer angeblich „verfassungsfeindlichen“ Unterwanderung zurück nehmen. Der „Marsch durch die Institutionen“ hatte begonnen. Professor Reinhart Wolff wurde 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen!
Auch der traditionalistisch-verstaubte „Bund Deutscher Pfadfinder“ entging nicht dieser linken „Unterwanderung“. Im April 68 lieferten sich auf dem Dörnberg bei Kassel rund 300 Stammesführer heftige Auseinandersetzungen um eine anti-autoritäre Ausrichtung, neue Wege und Ziele des Verbandes. Als ein großer Teil von ihnen spontan in Kassel an einer Demo gegen den Dutschke-Anschlag teilnahm, machten die Kritiker dagegen Stimmung mit dem Slogan „Pfadfinder unter roten Fahnen“. 1969 wurde in Hannover ein Arbeitskreis „Politisches Mandat“ beschlossen. Bei den Frankfurter Tagen des BDP im Mai gab es ein Seminar zu Problemen der Gesellschaft.
1970/71 ging die Politisierung weiter; ich war bei einem der Pfadfinder-Treffen auf dem Dörnberg dabei, als völkisch kontaminierte Bezeichnungen wie „Gau“, „Thing“, „Späher“ samt der Pfadfinder-Kluft und dem „Versprechen“ in der historischen Mottenkiste verschwanden und aus „Feldmeistern“ und „Führern“ Vorsitzende und Leiter wurden. Nachdem Misstrauensanträge gegen den linken Vorstand um Moritz von Engelhardt gescheitert waren, spaltete sich 1971 ein „liberal-progressiver“ Bund der Pfadfinder (BdP – mit kleinem „d“) ab und schloss sich mit den christlichen Bünden in einem neuen „Ring deutscher Pfadfinderbünde“ zusammen, während der BDP - nach Eigendarstellung ein „antifaschistischer, antirassistischer, multikultureller, innovativer, basisdemokratischer, selbstbestimmter, keiner Partei und Erwachsenenorganisation angeschlossener Jugendverband“ - 1972 im „Bund demokratischer Jugend“ eine neue Heimat fand. Diese Pfadfinder waren genau das geworden, was die heutigen rechten Politstrategen einer „konservativen Revolution“ als „links-versiffte Alt-68er“ attackieren.
Ja, und dann gabs die erste „Große Koalition“ zwischen CDU/CSU und SPD, nachdem die FDP das Bündnis mit den Konservativen aufgekündigt hatte. Kurt Georg Kiesinger, einst begeisterter Nazi-Anhänger der ersten Stunde, wurde als Nachfolger Ludwig Erhards Bundeskanzler, SPD-Chef Willi Brandt Vizekanzler und Außenminister. Man verbesserte die soziale Sicherheit, z.B. durch Einführung der Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall. Man senkte das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre (nachdem 18jährige ja auch bereits Wehrdienst fürs Vaterland leisten mussten).
Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) brachten (als „Plisch und Plum“ benannt nach Comic-Figuren des Altmeisters Wilhelm Busch) die erste Wirtschaftskrise nach dem Wiederaufbau-Boom, genannt Wirtschaftswunder, und die erstmals wieder gestiegene Arbeitslosigkeit mit milliardenschweren Investitionsprogrammen rasch in den Griff. Aber die GroKo nutzte ihre Zweidrittel-Mehrheit auch dazu, die verfassungsändernden „Notstandsgesetze“ durchzuboxen. Gegen dieses „neue Ermächtigungsgesetz“ erhob sich breiter gesellschaftlicher Widerstand von den Gewerkschaften über die Ostermarsch-Friedensbewegung bis zur Studentenbewegung. Die APO war geboren, die Außerparlamentarische Opposition.
Mitte März 1968 sorgten in Nürnberg Massenproteste gegen den SPD-Parteitag für „Schwere Tumulte“, so empörte Presseberichte. SPD-Fahnen wurden von den Masten geholt und symbolträchtig verbrannt auf dem „Platz der Opfer des Faschismus“. Willy Brandt und andere prominente SPD-Politiker mussten sich durch die Demonstranten ihren Weg in die Meistersingerhalle bahnen, wobei Herbert Wehners Pfeife verlorenging. Kabarettist Blome hatte sich als Musiker verkleidet in die schwer bewachte Halle geschmuggelt und aus seinem Geigenkasten von der Bühne Flugblätter auf die Genossen regnen lassen, in denen zur Diskussion mit den Demonstranten aufgefordert wurde. Bei den späteren Prozessen gegen zwei Jugendliche, die fotografiert wurden, denen aber keine Beteiligung nachgewiesen werden konnte, tänzelte auch Fritz Teufel mit seinem Gefolge aus der Berliner „Kommune 1“ ums Nürnberger Justizgebäude und sonderte am laufenden Band witzige Sponti-Sprüche ab.
Wesentlich dramatischer ging es bei einer NPD-Kundgebung mit Parteichef Adolf von Thadden zu. Mit dem Ruf „Ein Adolf war genug!“ wurde die Messehalle gestürmt, in der bereits 300 Demonstranten bezahlte Plätze unter den rund 1000 Nazi-Sympathisanten eingenommen hatten. Gemeinsam sprengten sie die Veranstaltung. Im gleichen Monat stimmten am Nürnberger Ohm-Polytechnikum 1208 Ingenieur-Studenten (bei 43 Enthaltungen) für einen monatelangen Streik gegen ihre geplante Abstufung zu „Technikern“.
Der Pariser Mai 68 mit dem deutsch-französischen Studentenführer Daniel Cohn-Bendit gab der Protestbewegung weiteren Schwung.
Im März 68 war in Nürnberg wie überall im Land ein basisdemokratisch organisierter „Republikanischer Club“ gegründet worden, der die Protestaktionen koordinierte und dessen lose Mitgliedschaft von Altkommunisten der verbotenen KPD über frustrierte Sozialdemokraten und Gewerkschafter, rebellische Jugend- und Schüler-Organisationen bis zum linken Flügel der FDP reichte. Wortführer waren die Erlanger SDS-Mitglieder Elmar Altvater, Freerk Huisken, Christel und Arnhelm Neusüß, die später in Berlin und Bremen renommierte Wissenschaftler wurden. Die einen wollten nur die Freiheitsversprechen unseres Grundgesetzes beim Wort nehmen, die anderen liebäugelten mit sozialistischen Gegenmodellen zum imperialistischen Kapitalismus. Doch bald führte das zu Ernüchterung und Spaltung, als sowjetische Panzer in Prag 1968 Alexander Dubceks Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ niederwalzten.
Ein Jahr später war auch die erste GroKo am Ende. Wahlsieger Willi Brandt wurde Bundeskanzler. „Mehr Demokratie wagen!“ versprach seine Regierungserklärung. Mit seinem Chefberater Egon Bahr leitete er gegen erbitterte Widerstände der Opposition die neue Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“ ein, die zwanzig Jahre danach wesentlich zur deutschen Wiedervereinigung beitragen sollte.
In seinem Buch über die deutsche Romantik meint Rüdiger Safranski, die 68er Bewegung sei romantisch gewesen, und das sei politisch gefährlich. Mag sein, dass sie in manchen Zielvorstellungen romantisch war. Gefährlich scheinen mir eher die derzeitigen Versuche einer rechtskonservativen Rolle rückwärts. Gegen die müssen wir die Befreiung unseres Lebens seit 68 – das, was die Politik heute als „unser freiheitliches Wertesystem“ verkauft – entschieden verteidigen.
MANFRED SCHWAB